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Titel
Ferien. Interpretationen und Popularisierung eines Bedürfnisses. Schweiz 1890–1950


Autor(en)
Schumacher, Beatrice
Erschienen
Wien 2002: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
418 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Martin Lengwiler, Berlin

Die Arbeit von Beatrice Schumacher, die als Dissertation am Historischen Seminar der Universität Basel entstand, untersucht die Geschichte der Ferien in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ausgangspunkt ist die sozialhistorische These, dass der Aufstieg der Erholungsferien vom Eliten- zum Massenphänomen als Folge der Modernisierung, im Besonderen als Bestandteil der Transformation der Arbeits- zur Freizeitgesellschaft, zu interpretieren sei. Die vermeintliche Selbstevidenz der Ferien zu hinterfragen, ist der Anspruch der Arbeit, wobei sich Schumachers Argumentation vor allem auf alltags- und kulturhistorische, oft auch auf geschlechtergeschichtliche Ansätze stützt. Als Fallbeispiel dient der schweizerische Kontext, der mit punktuellen Vergleichen zu Deutschland und Italien in den europäischen Raum eingebettet ist. Aus Rücksicht auf die schweizerische Terminologie spricht Schumacher deshalb von «Ferien» und nicht vom «Urlaub», dem in Deutschland üblichen Begriff. Das Buch ist mit schwarz-weissen und farbigen Abbildungen umfangreich illustriert, die Abbildungen sind verschiedentlich auch Gegenstand ausführlicher Bildanalysen.

Die Arbeit kommt zu zwei bemerkenswerten Ergebnissen. Erstens zeigt Schumacher auf, dass der arbeitsrechtliche Anspruch auf Ferien nicht im Gegensatz zur Arbeitsgesellschaft sondern als deren Ergänzung und Konsolidierung entstand. Der gesellschaftliche Aufstieg der Ferien ist mit anderen Worten nicht als Übergang zur Freizeitgesellschaft, sondern als Befestigung der Arbeitsgesellschaft zu werten. Dies gilt zumindest bis 1950, dem Ende des Untersuchungszeitraums. Zweitens kommt die Studie zum überraschenden Ergebnis, dass die Popularisierung der Ferien deutlich früher einsetzte als bisher angenommen. Nicht erst während der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit, sondern bereits in den 1930er Jahren und vor allem während des Zweiten Weltkriegs wurde aus dem früheren Eliten- ein Massenphänomen, indem der Tourismus zunehmend die Mittel- und Arbeiterschichten erreichte. Die Inkubationszeit des Massentourismus reicht damit weit in die Zwischenkriegszeit zurück.

Die Studie besteht aus zwei Teilen. In der ersten Hälfte verfolgt sie die sozialpolitischen Diskussionen um den gesetzlichen Ferienanspruch in der Schweiz. Sie greift dabei auch wissenschaftshistorische Debatten auf, vor allem die arbeitsphysiologische und die hygienische Forschung der Jahrhundertwende, die später wichtige Legitimationsgrundlagen für die Forderung nach einem gesetzlichen Ferienanspruch bildeten. Gerade die arbeitsphysiologische Legitimation des gesetzlichen Ferienanspruchs zeigt deutlich, dass sich der Feriengedanke als ein Mittel zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität verbreitete. In Übereinstimmung mit anderen Untersuchungen zur schweizerischen Sozialpolitik zeigt Schumacher auf, dass die Schweiz bis 1914 von einer sozialpolitischen Aufbruchstimmung geprägt war und international eine Vorreiterrolle einnahm. Beispiele für die frühe Verrechtlichung der Ferien sind die Ferienregelungen für das eidgenössische Personal (seit 1879) oder die Forderungen der eidgenössischen Fabrikinspektoren nach betrieblichen Feriengarantien für die Arbeiter- und Angestelltenschaft. Nach dem Ersten Weltkrieg dagegen kam die sozialpolitische Aufbruchstimmung ins Stocken. Analog zu anderen sozialpolitischen Projekten wie der Altersversicherung oder der Arbeitslosenversicherung wurde auch die Einführung eines eidgenössischen Feriengesetzes mit garantiertem Ferienanspruch in der Zwischenkriegszeit von Arbeitgeberseite und vom Bundesrat blockiert. Immerhin verbreitete sich der Ferienanspruch durch kantonale Gesetze und als Element von sozialpartnerschaftlichen Gesamtarbeitsverträgen weiter. Ein eidgenössisches Feriengesetz kam jedoch erst 1966.

Der zweite Teil des Buchs besteht aus drei Fallstudien. Schumacher hat drei frühe und für die Schweiz beispielhafte Tourismusunternehmen untersucht, die bereits vor 1945 Ferienangebote für Mittel- und Arbeiterschichten verkauften: die 1898 begründete Ferienorganisation des schweizerischen Eisenbahnerverbandes, der 1935 lancierte «Hotelplan», ein von Gottlieb Duttweiler im Sinne der Migros-Idee gegründeter Reiseveranstalter, und die Schweizerische Reisekasse, die 1939 vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund aufgebaut wurde. Alle drei Fallstudien beruhen auf reichem Archivmaterial, an dem die Autorin überzeugend den schrittweisen, teilweise schwierigen, aber letztlich doch erfolgreichen Übergang vom Eliten- zum Massentourismus aufzeigt. Dabei veränderten sich auch die Machtverhältnisse in der Tourismusindustrie. Die Hotels verloren ihre traditionelle Bedeutung als Ferienanbieter an die neuen Reiseveranstalter, die mit standardisierten und kostengünstigen Ferienangeboten neue Kundenschichten anzusprechen vermochten. Die drei Fallbeispiele illustrieren damit auch die längerfristige Kommodifizierung der Ferien vom Luxusgut zum Konsumprodukt. Ausserdem machen sie deutlich, dass der Zweite Weltkrieg in der Schweiz viel zur Umstellung der Tourismusindustrie von internationalen auf heimische Kundensegmente beitrug. Diese Nationalisierung der Tourismusindustrie hat zusammen mit dem Angebot günstiger Pauschalarrangements noch während des Kriegs entscheidend zum Wachstum des schweizerischen Tourismusmarktes beigetragen. In dieser Zeit bildeten sich auch die unternehmerischen und wissenschaftlichen Netzwerke, die nach 1945 den schweizerischen Tourismus nachhaltig prägten.

Insgesamt ist die empirische Argumentation Schumachers überzeugend. Da die Untersuchung mit ihrem Gegenstand weitgehend historiografisches Neuland beschreitet, sind die Möglichkeiten, an vergleichbare Forschungsprojekte anzuknüpfen, gering. Wohl aus diesem Grund ist die Arbeit streckenweise eher deskriptiv denn analytisch ausgerichtet. Zu bedauern ist, dass die Autorin auf ein zusammenfassendes Schlusswort verzichtet und stattdessen ein essayistisches Nachwort über das Ferienerlebnis als Erfahrung eines Übergangsraums verfasst hat. Es bleibt deshalb weitgehend der Leserschaft überlassen, die Ergebnisse der Studie summarisch mit der Sozial- und Kulturgeschichte der Schweiz in Beziehung zu setzen. Einige der eingangs aufgeworfenen Fragen, zum Beispiel in welcher Weise die Untersuchung nun herkömmliche Modernisierungsmodelle relativiert, wie weit die Popularisierung von Ferienangeboten reichte oder welche Bedeutung die Feriendebatten innerhalb der Geschichte der schweizerischen Sozialpolitik besassen, werden am Schluss nicht mehr aufgegriffen und bleiben deshalb unbeantwortet.

Zitierweise:
Martin Lengwiler: Rezension zu: Beatrice Schumacher: Ferien. Interpretationen und Popularisierung eines Bedürfnisses. Schweiz 1890–1950, Wien/Köln/Weimar, Böhlau Verlag, 2002. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 1, 2004, S. 95-96.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 1, 2004, S. 95-96.

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